FUNDRAISING-PRAXIS

Die Gemeinwohl-Bilanz – Chance für Gemeinnützige

Gemeinwohlökonomie
Gemeinwohlökonomie - Viest-Graphik

Das Thema Gemeinwohlökonomie wird von Unternehmen immer stärker diskutiert. Doch gerade gemeinnützige Organisationen können durch das Anfertigen einer Gemeinwohl-Bilanz Transparenz und Veränderungsbereitschaft fördern. Dr. Oliver Viest zeigt am Beispiel der Diakonischen „Herzogsägmühle“, was das bewirken kann.

Wilfried Knorr hat seine Mitarbeitenden gefragt, und das Ergebnis war irritierend: Nur fünf Prozent der 1300 Mitarbeitenden der Diakonischen „Herzogsägmühle“ in Oberbayern gaben an, aufgrund von christlichen Motiven bei der Einrichtung tätig zu sein. Die gute Nachricht: Stattdessen bilden persönliche, moralische Werte die Grundlage ihres Engagements.

Radikales Umdenken

Für Wilfried Knorr war das Ergebnis Ansporn für ein radikales Umdenken und der Start eines organisationsweiten Werteprozesses. Anstatt auf den Formulierungen des diakonischen Leitbildes zu pochen drehte er den Spieß um und bat die Mitarbeitenden ihre Vorstellung von Sinn und Nächstenliebe zu formulieren und zu diskutieren. Schnell ging es da auch um die Wirkung des eigenen Handelns und um die größeren sozialen und ökologischen Auswirkungen des Arbeitgebers. Und diese Auswirkungen, so stellten die inzwischen gebildeten Arbeitsgruppen fest, sind durchaus auch negativ: Während einerseits Klienten gepflegt und gefördert werden, wird auf der anderen Seite sorglos und rein preisorientiert eingekauft. Während einerseits für ein naturnahes Ambiente gesorgt wird, werden auf der anderen Seite riesige CO2-Mengen für Arbeitsfahrten emittiert. Dies passe, so Knorr, weder zum diakonischen Anspruch noch zum Werterahmen der Mitarbeitenden.

Nun befindet sich die Herzogsägmühle in einem lebendigen Prozess aus dem bereits eine Reihe neuer Ideen hervor gegangen sind – vom Carsharing für Mitarbeitende bis hin zum regionalen Einkauf. Neue Fragen nach Beteiligung und Transparenz werden gestellt. Die Organisation öffnet sich.

Gemeinwohl-Bilanz als Leitfaden

Wilfried Knorr nutzt für diesen Prozess die „Gemeinwohl-Bilanz“ als Leitfaden. Damit gehört die diakonische Einrichtung, die Menschen mit Problemen, Krankheit oder Behinderung ein Zuhause bietet, zu den weltweit ersten gemeinnützigen Organisationen, die sich nach den Prinzipien der Gemeinwohl-Ökonomie erneuert. Diese zivilgesellschaftlich entwickelte Bewertungshilfe unternehmerischen Handelns beleuchtet die Bedürfnisse sämtlicher Berührungsgruppen einer Organisation – Lieferanten und Mitarbeitende ebenso wie Geldgeber, die Natur und sogar Mitbewerber. Und sie fragt, wie ein (Sozial-)Unternehmen die humanistischen Werte unserer Gesellschaft, wie Demokratie, Transparenz, Solidarität, Menschenwürde und ökologische Verantwortung, gegenüber diesen Berührungsgruppen lebt. Die Antworten werden auf einer Skala von „Erste Schritte“ bis „Vorbildlich“ eingeordnet. Auf diese Weise wird sichtbar, wo es noch ethischen Handlungsbedarf gibt. (siehe Grafik)

Gemeinnützige ohne generellen Vorsprung

Gemeinnützige Organisationen haben qua satzungsmäßigem Auftrag bei dieser Bewertung gegenüber erwerbswirtschaftlichen Unternehmen einen Vorsprung. Schließlich ist ihr „Produkt“ an der gesellschaftlichen Wirkung orientiert und damit bereits sinnerfüllt. Doch gleichzeitig kann eine solche Analyse bestimmte Bereiche ans Licht holen, die bislang nicht im Bewusstsein der Handelnden waren. So könnte beispielsweise in Sachen Transparenz, Teilhabe und Arbeitsplatzqualität ein gewinnorientiertes Unternehmen deutlich besser abschneiden als so manche gemeinnützige Organisation.

Die „Bilanzierung“ des eigenen Handelns ist indes, wie das Beispiel der Herzogsägmühle zeigt, keine formale Maßnahme im Sinne einer „Zertifizierung“. Vielmehr sieht sich die Gemeinwohl-Bilanz als Inspirationsquelle und Begleiterin einer Organisation auf dem Weg zu einem modernen, glaubwürdigen und ethischen Sozialunternehmen. Mit Hilfe eines öffentlichen „GWÖ-Berichtes“ kann die Organisation zudem ihr Handeln transparent machen und auch ihre derzeitigen Schwachstellen und damit verbundenen Ziele ehrlich erklären. Die rund 300 Unternehmen, die bislang einen zertifizierten Bericht erstellt haben, berichten übereinstimmend von spürbaren Auswirkungen auf ihr Personalmanagement. Tatsächlich ist Authentizität und Wahrhaftigkeit die beste Recruiting-Maßnahme und die beste Werbung für eine Organisation nach innen wie nach außen.

Vom Trend zum Handeln

Die Gemeinwohl-Bilanz wurde 2011 von Unternehmerinnen und Unternehmern der zivilgesellschaftlichen Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung entwickelt. Diese ist seitdem auf 7.000 Mitglieder gewachsen und zu einer weltweiten Bewegung für ethisches und ökologisches Wirtschaften geworden. In Baden-Württemberg ist sie als förderungswürdige „Soziale Innovation“ im jüngsten Koalitionsvertrag eingegangen, und auch der europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat mit großer Mehrheit für eine Integration der Gemeinwohl-Ökonomie in die staatlichen Rechtsrahmen plädiert.

Gemeinnützige Organisationen sollten diesen Rückenwind rechtzeitig nutzen, um ihre Organisationskultur zukunftsfähig zu machen – aber auch, um sich an die Spitze einer gesellschaftlichen Erneuerungsbewegung zu stellen und so ihrem gesellschaftsgestaltenden Auftrag nachzukommen. Mehr Informationen sind hier zu finden.

 

Dr. Oliver Viest ist Geschäftsführer der Kommunikationsagentur <em>faktor sowie Mitglied der Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung und zertifizierter Gemeinwohl-Ökonomie-Berater. Er berät Organisationen und Unternehmen bei der Strategie- und Markenentwicklung und unterstützt mit seinem Team bei der kommunikativen Umsetzung. Auch sein Unternehmen hat einen Gemeinwohlbericht verfasst. An der Fundraising Akademie ist er Dozent im Lehrgang zum CSR-Manager.
ov@em-faktor.de

(Bild: Viest-Graphik)

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