AKTUELLE DEBATTE

Keine Kohle mehr von der EU

Einsatz von „Ärzte ohne Grenzen“ auf der Dignity 1 im Mittelmeer. Von „Ärzte ohne Grenzen“ konnten 2015 mit drei Rettungsschiffen 23.000 Menschen in 120 Rettungsaktionen aus Seenot gerettet werden. © Juan Matias Gil/MSF
Einsatz von „Ärzte ohne Grenzen“ auf der Dignity 1 im Mittelmeer. Von „Ärzte ohne Grenzen“ konnten 2015 mit drei Rettungsschiffen 23.000 Menschen in 120 Rettungsaktionen aus Seenot gerettet werden. © Juan Matias Gil/MSF

Die Entscheidung von „Ärzte ohne Grenzen“, aus Protest gegen die Flüchtlingspolitik der EU keine weiteren staatlichen Fördergelder anzunehmen, hat Beifall aber auch Kritik unter Fundraisern ausgelöst. Das Presseecho dagegen war mehrheitlich positiv.

Kurz vor dem Weltflüchtlingstag am 20. Juni teilte „Ärzte ohne Grenzen“ in Brüssel mit, aus Protest gegen die Abschottungspolitik der Europäischen Union keine Gelder mehr bei der EU und ihren Mitgliedstaaten zu beantragen. „Wir sehen in unseren Projekten jeden Tag, welches Leid die aktuelle EU-Politik verursacht“, begründet Florian Westphal, Geschäftsführer von „Ärzte ohne Grenzen Deutschland“, die Entscheidung. Die Organisation verzichtet damit auf Finanzierungen in Höhe von derzeit rund 50 Millionen Euro jährlich und setzt verstärkt auf Privatspender. Auch bei der Bundesregierung werden keine neuen Gelder beantragt.

Starke Kritik

Besonders überraschend kommt die Kritik nicht. Bereits Mitte Mai hatte „Ärzte Ohne Grenzen“ die Flüchtlingspolitik in einem offenen Brief deutlich kritisiert und nun nochmal erneuert: „Die verheerenden Auswirkungen der EU-Abschottungspolitik für Menschen auf der Flucht, besonders für verletzliche Gruppen wie Schwangere, Kinder und unbegleitete Minderjährige, erleben unsere Teams täglich“, so Westphal. „Der EU-Türkei-Deal ist kein Erfolg, wie die deutsche Regierung behauptet. Er versucht nur, Notleidende aus Europa fernzuhalten. Vielmehr ist er ein gefährlicher Präzedenzfall für die Politik anderer Staaten jenseits der EU. Wir sehen schon jetzt einen Dominoeffekt geschlossener Grenzen. Die EU-Staaten sind durch ihre Abschottung zur Türkei mit dafür verantwortlich, dass im Norden Syriens rund 100.000 Vertriebene nur wenige Kilometer entfernt von der Front mit dem so genannten Islamischen Staat an der türkischen Grenze festsitzen, die ebenfalls geschlossen ist.“

Millionenloch

Die deutsche Sektion von „Ärzte ohne Grenzen“ muss im nächsten Jahr nun ein Loch von 4 Millionen Euro stopfen. Für das Jahr 2016 waren Finanzierungsverträge über 4 Millionen Euro für Projekte in fünf Staaten in Afrika abgeschlossen, die noch erfüllt werden. Neue Mittel wird „Ärzte ohne Grenzen“ beim Auswärtigen Amt nicht beantragen. Das Amt ließ von seiner Sprecherin verkünden, dass es die Entscheidung bedauere, um gleichzeitig darauf hinzuweisen das „Ärzte ohne Grenzen“ schon immer eine sehr unabhängige Organisation gewesen sei, mit der man auch in Zukunft weiter zusammenarbeiten würde. Jirka Wirth, Leiter Fundraising von „Ärzte ohne Grenzen“ sieht dieses Etatloch aber nicht kritisch. „Im letzten Jahr hatten wir 117 Millionen Euro aus privaten Mitteln und vier Millionen aus öffentlichen Mitteln. Wir sind uns sicher, dass wir das kompensieren können, zumal wir auch Reserven haben, die zumindest am Anfang greifen werden.“

Kritik an „plakativer Ethik“

Alles also nur ein verdeckter PR-Coup, um mehr Spenden zu erhalten? „Ärzte ohne Grenzen International“ finanziert sich immerhin bereits zu 92 Prozent aus Privatspenden. Der Anteil institutioneller Gelder liegt bei knapp 7 Prozent. Im Jahr 2015 erhielt „Ärzte ohne Grenzen“ 19 Millionen Euro von EU-Institutionen, 37 Millionen Euro von EU-Mitgliedstaaten sowie 6,8 Millionen Euro von Norwegen, von dem ebenfalls keine Gelder mehr angenommen werden sollen. „Ärzte ohne Grenzen Deutschland“ erhielt 2015 vom Auswärtigen Amt 3,9 Millionen Euro. Das waren 3,1 Prozent der Gesamteinnahmen. Kann man es sich da leisten, auf Geld zu verzichten, weil die Spender das Loch schon schließen werden?

Keine Fundraising-Entscheidung

Jirka Wirth beschreibt es so: „Dies war keine Fundraising-Entscheidung, sondern eine internationale, inhaltliche Entscheidung, mit der wir uns von einer EU-Politik distanzieren, unter der Menschen auf der Flucht leiden. Unsere Projektmitarbeiter erleben dies jeden Tag – nicht nur auf dem Mittelmeer, sondern auch an EU-Grenzen und bis in Herkunftsländer wie Syrien hinein. Es ist richtig, dass wir in den letzten zwei, drei Jahren Reserven aufgebaut haben. Das hat aber die grundsätzliche Entscheidung nicht beeinflusst. Es ging uns auch nicht um einen indirekten Spendenappell, denn die Diskussion, sich von diesen institutionellen Mitteln unabhängig zu machen, gibt es bei uns schon länger.“ Bisher sei aber entschieden worden, dass EU-Gelder in bestimmten Ländern außerhalb Europas eingesetzt werden können. Das habe sich angesichts der „katastrophalen Auswirkungen“ dieser Flüchtlingspolitik nun geändert. Einen neuen strategischen Ansatz sieht Wirth in der hinzugewonnenen Unabhängigkeit nicht: „Wir als deutsche Sektion sind sowieso zu mehr als 93 Prozent spendenfinanziert und unabhängig. Als Fundraiser können wir für Deutschland nun künftig natürlich sagen: Wir sind komplett unabhängig. Aber diese Nuance werden wir in unserer Strategie sicher nicht so nach vorne kehren. Ganz vorn steht immer noch die inhaltliche Arbeit.“

Spender reagieren unterschiedlich

Die Reaktionen der Spender waren sehr unterschiedlich: „Es gibt ein breites Spektrum: von Begeisterung und der Einstellung ‚jetzt erst recht‘ bis hin zu zahlreichen Kündigungen“, stellt Jirka Wirth eine Woche nach Bekanntwerden des Verzichts auf EU-Gelder fest. „Soweit wir das bislang sagen können, halten sich die positiven und negativen Rückmeldungen mit jeweils etwa 300 Zuschriften die Waage. Kündigungen von Dauerspenden werden allerdings von dreimal so vielen neuen Dauerspendern weit überkompensiert.“ Wirth macht für die große Bandbreite an Reaktionen auch die polarisiert geführte Debatte in der deutschen Öffentlichkeit um den Umgang mit Flüchtlingen verantwortlich. „Seit letztem Jahr, als bekannt wurde, dass wir auf Rettungsschiffen im Mittelmeer aktiv sind, haben wir teilweise sehr unschöne Kommentare gehört. Doch aus unserer Sicht kommen diese von einer Minderheit, denn der Großteil der Spender steht hinter uns, auch hinter unserer Hilfe für Flüchtende und schätzt unsere Unabhängigkeit.“
Im Planungshorizont bis 2019 hat Jirka Wirth die vier Millionen Euro jährlich aber bereits festgeschrieben und muss nun Ideen entwickeln, die Spender zu überzeugen. „Sicher, das sind insgesamt 12 Millionen, aber wir sind sehr zuversichtlich, das in den nächsten drei Jahren zu schaffen.“

(Bild: © Juan Matias Gil/MSF)

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